Schreiben

Der rote Traktor

Jordan verbringt den Weihnachtsabend unverhofft mit Kates Familie und erinnert sich an ein besonders einprägsames Erlebnis aus seiner Kindheit. Wobei es in dieser Familie mehr Geheimnisse gibt, als bloß die Frage, welches Geschenk zuerst ausgepackt wird …

Lest hier exklusiv und als Teil des großartigen Autoren-Adventskalenders diesen Ausschnitt aus einem Weihnachtsroman, an dem ich gerade arbeite. Viel Spaß und frohe Weihnachten!

Das Zimmer, das sie nun betraten, wirkte, als hätte es jemand direkt aus einem Magazin für Interior Design kopiert. Thema: Weihnachtskitsch vom Feinsten. Die opulenten roten Plüschsofas und die goldumrandeten Lehnstühle schienen nur für einen Zweck hier im Haus zu existieren: um an Weihnachten ihren großen Auftritt zu haben. Die Sitzmöbel gingen eine derart perfekte Liaison mit der restlichen Festdekoration ein, dass er den Verdacht hatte, sie lagerten das ganze Jahr über auf dem Dachboden. Dann, wenn das Haus festlich geschmückt wurde, holte man sie raus und tat so, als würde man ständig mit dieser schweren Pracht leben. 

Allerdings: So beeindruckend die Häuser seiner reichen Freunde an Weihnachten auch eingerichtet waren, dieses hier war irgendwie authentischer. An der sicher mehr als drei Meter hohen Tanne funkelten Weihnachtsantiquitäten um die Wette. Ob die früheren Besitzer des Hauses diese exklusiv aus England hatten kommen lassen? Vorstellbar wäre es. Der Baum hätte auch schon zu Charles Dickens Zeiten genau so aussehen können, bis auf die künstlichern Kerzen jedenfalls.

Bei diesen wilden Kindern hätte mit echten Kerzen auch jederzeit das Haus abgefackelt werden können. Die wertvollen Einrichtungsgegenstände interessierten die Racker nämlich kein Bisschen. Sie tobten ausgelassen zwischen den Erwachsenen herum, die die lieben Kleinen nachsichtig beobachteten. 

Kates Brüder winkten ihm freundlich zu, als Kate und er wieder hineinkamen. Sie war schweigsam, in sich gekehrt. Was war eben geschehen? Über was hatten Drake und sie sich gestritten? Ging es wirklich bloß darum, dass der Vater sich für seinen Sohn einsetzte und die Ex-Freundin zur Rede stellte? Irgendwie passte das nicht zu dem hungrigen Blick, den Drake Kate zuwarf, wann immer er sie zu Gesicht bekam. Langsam manifestierte sich in seinem Kopf ein seltsamer Verdacht. 

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Jordan sie leise. 

Sie nickte, sah ihm aber nicht in die Augen. 

„Bist du dir sicher?“ Eindringlich legte er ihr die Hand auf den Arm.

Kate schluckte. „Kannst du mich für einen Moment entschuldigen? Ich muss mit meiner Mutter sprechen.“ Ohne seine Antwort abzuwarten, stob sie davon. Verwundert blickte er sich nach. Was wollte sie vor ihm verbergen?

In diesem Moment erreichte die Aufregung der Kinder ihren Höhepunkt. 

„Der Weihnachtsmann kommt! Der Weihnachtsmann kommt!“, schrien sie aufgeregt. Allerdings bezweifelte Jordan stark, dass die Zwillinge wirklich noch an den Weihnachtsmann glaubten. 

Vermutlich wollten sie die jüngeren Kinder anstacheln. Magischerweise dimmte sich das Licht, bis der Raum nur noch durch das flackernde Feuer im Kamin und die LEDs am Weihnachtsbaum beleuchtet wurde. Ein Mann in rotem Mantel und mit weißem Bart zwängte sich durch die Erwachsenen, die höflich ihre Gespräche einstellten und an Champagnergläsern nippten. Er setzte sich auf den Sessel, der direkt neben dem Baum stand, legte seinen Sack ab und putzte die runden Brillengläser, die sich durch die Kälte draußen beschlagen hatten. Jordan überlegte, ob das Gesicht zu einem der Erwachsenen gehörte, die er in den letzten Stunden kennengelernt hatte, doch es schien ihm nicht so zu sein. Vielleicht war es ein Nachbar oder auch ein professioneller Weihnachtsmann. 

Der unterhielt sich mit den Kindern, sprach darüber, ob sie brav gewesen waren oder nicht und überreichte jedem Kind ein gigantisches Paket. 

Heute durfte nur ein Geschenk ausgepackt werden. Der Rest würde traditionell am nächsten Morgen unter dem Weihnachtsbaum liegen. Einer der Zwillinge war am schnellsten. Er packte sein Geschenk als erstes aus, stellte fest, dass es eine Spielekonsole beinhaltete, und warf es achtlos in die Ecke. Dann ging er mit anklagender Miene zu seiner Mutter, die ihn in Abwehrhaltung ansah. 

„Was ist denn, mein Lieber?“, fragte sie. 

„Das ist eine X-Box und keine Playstation!“, beschwerte er sich. 

Ihre Augen wanderten unsicher durch den Raum. „Aber Anton, du hast dir doch eine Spielekonsole gewünscht!“

„Ja“, knurrte der Junge, „aber das ist die falsche! Ich habe ganz sicher Playstation auf den Wunschzettel geschrieben!“ 

Der Mutter war das Ganze sichtbar unangenehm. Zwei Frauen, die in der Nähe standen, hoben fragend ihre Augenbrauen. Hastig zog sie ihren Sohn mit nach draußen. 

Jordan verfolgte diese Szene und dachte daran, wie sehr er sich als Kind danach gesehnt hatte, ein einziges Mal ein richtiges Geschenk zu bekommen, nicht bloß Socken und Unterhosen. Er musste etwas jünger als die Zwillinge gewesen sein, als ihm das schlimmste Weihnachten seines Lebens passiert war. Zu der Zeit war er noch zu klein gewesen, um zu verstehen, wie bösartig sein Pflegevater war.

Verheißungsvoll hatte das Paket ausgesehen, das als Letztes unter dem geschmückten Baum übrig geblieben war, und sein Herz hatte einen Sprung gemacht. Die anderen Kinder, allen voran natürlich Papa Logans echte Kinder, Chloe und Willy hatten bereits ihrer Pakete ausgepackt. Willy hatte über seinen nagelneuen Baseballschläger gestrahlt, Chloe glücklich die Barbie in das dazu passende Auto gesetzt. Tyler hatte mit einem höflichen Lächeln die üblichen Socken und Unterhosen in Empfang genommen, mit denen die Mastersons in der Regel ihre Pflegekinder bedachten. Das wenige Geld, das zur Verfügung stand, wurde stets gerecht zwischen den beiden leiblichen Kindern aufgeteilt. Die Pflegekinder trugen die ausrangierten Sachen der anderen weiter und bekamen, wenn schon etwas geschenkt werden musste, etwas Praktisches, das man ohnehin brauchte. 

Doch das Paket, das noch unter dem schiefgewachsenen Baum stand, dessen geringe Größe, durch ein Tischchen erhöht wurde, war nicht weich, wie Geschenke waren, die Kleidungsstücke enthielten. Nein, es hatte genau die richtige Form, in der ein Auto oder ein Bagger stecken könnte, wie er es sich seit Ewigkeiten wünschte. 

Er sah sich schon zu dem Weiher gehen, an dem die Kinder des Viertels auf einem Hügel mit ihren Fahrzeugen spielten. Bedächtig nahm er das Paket an sich und bemerkte nicht den Blick, mit dem Papa Logan ihn beobachtete. Auch Willy ließ ihn nicht aus den Augen. Denn er war es gewöhnt, dass alles, was nach Spielzeug in diesem Haushalt aussah, ihm gehörte. Dass ein attraktiv aussehendes Weihnachtsgeschenk für Jordan sein konnte, ging ihm sichtbar gegen den Strich. Protestieren sah er seinen Vater an, der begütigend die Hand hob und an der obligatorischen Bierflasche nuckelte. Sicher schon sechs oder sieben hatte er nachlässig auf den Boden neben dem Ohrensessel abgestellt, in dem er seine Abende verbrachte.

Gleich würden die Kinder eilig die Flaschen einsammeln und in die Küche bringen. Es gab Dinge, die man in diesem Haushalt sehr schnell lernte, wenn man nicht ständig eine Tracht Prügel oder, noch viel schlimmer, eine gefühlte Ewigkeit in der Grube unter dem Haus kassieren wollte. Die war einst als Vorratskeller angelegt worden und mittlerweile nur noch dafür da war, ungehorsame Kinder einzusperren. 

Papa Logans Augen waren schon leicht glasig und Jordan entging in der Vorfreude auf sein Weihnachtsgeschenk fatalerweise die Tatsache, dass sie bereits wieder ein bösartiges Glitzern in sich trugen. Meist war er so klug, sich dünn zu machen, wenn er dieses Glitzern in den Augen seines Pflegevaters entdeckte. Auf keinen Fall wollte er in der Schusslinie sein, wenn dieser mal wieder ein Opfer für seinen Frust suchte.

Denn wenn das geschah, dann sah auch Brenda, seine Frau, zu, dass sie nicht auffindbar war. Niemand würde ihm, Jordan, helfen. Doch arglos nahm er das Paket, öffnete es, fühlte die Umrisse eines Traktors und ließ es dann enttäuscht fallen. Das vermeintlich nagelneue Spielzeug war bereits kaputt. Zwei Reifen fehlten, mit einem Edding hatte jemand auf dem Traktor herumgekritzelt. Es war genau der Traktor, den sich Jordan gewünscht hatte. Das stimmte. Er hatte ihn sich gewünscht, während dieser ungenutzt in Wills Regal gestanden hatte. Doch in dem Moment, wo Willy festgestellt hatte, dass Jordan ihn gerne hätte, hatte er ihm die Reifen abgebrochen und mit Edding auf das Fahrzeug gekritzelt. 

Als sein Pflegebruder sah, was Jordan da geschenkt bekam, fing er an zu lachen. 

„Hör auf, zu lachen!“, schrie Jordan. Dann vergaß er alle Vorsicht und stürzte sich auf ihn. Willy, überrascht von der ungewohnten Aggressivität des Jüngeren, taumelte zurück und stieß neben das Beistelltischchen, auf dem Papa Logan gerade eine Flasche abgestellt hatte. Fatalerweise fiel sie um und ergoss sich auf den Boden. 

Wie ein Rächer aus der Hölle erhob der Koloss sich aus seinem Sessel. Jordan kassierte die Prügel seines Lebens und verbrachte die Weihnachtsnacht im dunklen Keller. Nie wieder, werde ich mir etwas zu Weihnachten wünschen, schwor sich Jordan in dieser Nacht.

„Sie sehen so traurig aus. Vermissen Sie Ihre Familie?“ Eine sanfte Stimme riss ihn aus seinen Erinnerungen.