Gartenfreunde e.V. 1948
Journalistin Pippa ist einer heißen Geschichte auf der Spur. Doch was sie wirklich an diesem ausnehmend warmen Sommertag erwartet und was das mit einer verstorbenen Prinzessin zu tun hat, ahnt sie noch nicht …
Exklusiv für den Autorenadventskalender Osteredition den Anfang einer brandneuen Geschichte von mir!
„Nur noch dieses eine Mal“, schwor Gideon sich, als er in seinen 911er stieg, um zu den Anlagen zu fahren, die letztlich im Kleingartenverein Gartenfreunde 1948 e.V. endeten. Allein schon mit diesem Auto vorzufahren schien absurd. Seiner Tante Lene buchstäblich auf das Dach ihres Gartenhäuschens zu steigen, wo das Nest einer Meise dummerweise in einer gewissen Undichtigkeit gemündet war, die den Jahresertrag der Kartoffelernte bedrohte, noch absurder.
Vor allem, da er seiner Tante problemlos einen Gärtner und einen Hausmeister an die Seite stellen könnte. Doch das kam natürlich überhaupt nicht infrage. Tante Lene war immer schon eine sparsame Frau gewesen und was man (oder auch ein naher, zu Hilfe verpflichteter Verwandter) selbst erledigen konnte, musste auch selbst getan werden. Auch wenn das bedeutete, alle zwei Tage durchzuklingeln, wann er es denn wohl endlich einrichten könnte. Aber er hatte seiner Tante Lene noch nie etwas abschlagen können, seit sie ihn vor einem Jahr im Internat gerettet hatte, als seine Eltern im Zuge eines Selbstverwirklichungstrips durch die Welt gebraust waren. Trotz der immerhin intakten Beziehung seiner Erzeuger, war er sich in deren perfekten Welt immer wie ein merkwürdiger Störenfried vorgekommen, als Nachzügler nach drei Schwester, ein ungewolltes Zufallsprodukt der symbiotischen Beziehung zweier Menschen, die nicht ganz von dieser Welt gewesen sein schienen.
Er seufzte und fuhr sich durch die zottigen Strähnen, bei deren Anblick Tante Lene sicher sofort wieder maulen würde, dass er einen ordentlichen Haarschnitt brauchte. Das Dumme war nur, dass er nicht behaupten konnte, er wäre auf der Arbeit unabkömmlich, was vermutlich der einzige Grund gewesen wäre, den Dachdeckerjob abzulehnen, den sie akzeptiert hätte. Dafür kannte sie ihn leider zu gut. Gut möglich, dass sie sogar glaubte, er bräuchte mal wieder eine sinnvolle Beschäftigung, die ihm den Ernst des Lebens näher bringen würde. Sie hatte immer noch nicht begriffen, oder vielmehr noch nicht begreifen wollen, dass er eben ein Taugenichts war, der durch einen dummen Zufall zu viel zu viel Geld gekommen war. Ungefähr so hatte sein Vater es beim letzten verkorksten Weihnachtsfest ausgedrückt, definitiv dem letzten, dass er in seinem Elternhaus verbracht hatte und verbringen würde, soviel war immerhin sicher.
Urplötzlich flog ein rot-weiß gepunkteter Ball auf die Straße. Er stieg umgehend in die Bremsen. Keine Sekunde zu früh. Schmerzhaft wurde er in die Gurte gedrückt. Seine Herz pochte wie wild. Als ein kleiner blonder Junge fröhlich auf die Straße hüpfte, ganz offenbar hinter seinem Ball her. Erbost presste er seine Faust auf die Hupe. Passte denn niemand auf den Jungen auf? Hatte ihm niemand beigebrachte, nicht einfach auf die Straße zu laufen? Der Junge starrte ihn mit angstgeweiteten Augen an und fing herzzerreißend an zu heulen. Dabei blieb er mitten auf der Straße stehen. Eine Enddreißigerin fegte nun hinter ihrem Goldschatz auf die Straße und presste ihn an den vermutlich mütterlichen Busen. Statt dem Jungen den Kopf zu waschen, damit er in Zukunft nicht beim Spielen das Leben riskierte, hob sie drohend die rechte Faust.
„Sind Sie verrückt geworden, mit ihrer Protzkarre hier so herum zu heizen? Hier gibt es spielende Kinder!“ Sie zeigte ihm einen Vogel, zog den Sohnemann von der Straße und versprach ihm ein großes Eis auf den Schreck, damit er sich wieder beruhigte.
Er verzichtete auf die Antwort, dass er gerade wegen der tiefergelegten Protzkarre auf dem mit Schlaglöchern übersäten Feldweg keine dreißig Stundenkilometer gefahren war und ansonsten ohnehin nicht rechtzeitig hätte bremsen können. Stattdessen ließ er den Motor aufheulen und sorgte dafür, dass die zeternde Frau immerhin noch eine Staubwolke zu fressen bekam, bevor er weiterfuhr.
Mit pochender Halsschlagader bog er schließlich, selbstverständlich wieder im Schritttempo, in den schmalen Weg ein, der zu der kleinen Gartenoase führte, die wohl keiner mitten in einer hektischen Stadt wie Hamburg erwartet hatte. Links floss die Bille, rechts reihten sich die Kleingartenlauben wie Perlen auf einer Schnur quer zur Trasse einer S-Bahn entlang.
Pippa fragte sich, ob der Adresse im Navi ihres Smartphones überhaupt zu trauen war, denn es führte sie in eine Ecke Hamburg, die sie noch nie gesehen hatte. Die Straße war derart voller Schlaglöcher, dass ihre Vesper mehrere ungeplante und sicher nicht ungefährliche Sprünge hinlegte, bis sie plötzlich staunend vor dem stand, was vermutlich der Traum eines jeden Kleingärtners war.
Ein schon etwas verwittertes, aber dennoch imposantes Tor, das in jedem Bonanza-Film zu Ehren gekommen wäre, verkündete die Tatsache, dass sie sich im Kleingartenverein Gartenfreunde 1948 e.V. befand. Zu ihrem Glück war das Tor geöffnet und sie konnte ungehindert das merkwürdige Königreich der Kleingärtner erkunden.
Sie staunte über die vielen unterschiedlichen Parzellentypen. Es gab die bayerischen Minihäuschen mit einem englischen Rasen, den jemand mit dem Lineal geschnitten haben musste. Dann die ehrgeizigen Beete der Menschen, die wohl versuchten 95 Prozent ihres Obst und Gemüsebedarf im Selbstanbau zu züchten. Natürlich gab es auch ein paar verwilderte Parzellen, die so aussahen, als könnten sie in der nächsten Zeit den Besitzer wechseln. Pippa staunte auch über den Kleingarten, der mit sicher 100 verschiedenen Gartenzwergen gefüllt war. Dann hatte sie endlich ein Häuschen, das bisher einzige, gefunden, auf das die Bezeichnung Schweinchenrosa passte. Ansonsten aber war dieser Garten etwas ganz anderes als die, die sie bisher gesehen hatte.
Es musst der Garten einer Fee oder Elfe sein. Anders war diese vielfältige Blütenpracht nicht zu erklären, die sich ihrem staunenden Auge bot. Auf den ersten Blick wirkte er wie eine Wildblumenwiese. Das schienen auch die Bienen und Insekten zu denken, die zuhauf durch die kleine grüne Oase schwirrten. Auf den zweiten Blick konnte man aber erkennen, dass die vielfältigen Blüten ganz sicher nicht durch Zufall genauso gewachsen waren. Dieser Minigarten war ein wahres Blütenkunstwerk, durch das sich mehrere kleine Wege schlängelten, die zu einem verwunschenen Haus führten, das vermutlich einer Kräuterhexe oder etwas Ähnlichem gehören musste. Pippa kannte nicht die Hälfte der vorhandenen Pflanzen. Aber die aromatischen Düfte, die in der Luft lagen, ließ sie vermuten, dass es sich hier eventuell vorrangig um einen Heilkräutergarten handelte.
Während Pippa noch über die wilde Blütenpracht staunte, erschien inmitten der Pflanzen ein dunkler Haarschopf, der zu einer hochgewachsenen, schönen Frau gehörte. Wie eine Amazone stand sie da mit ihrer Gießkanne und den langen wilden Haaren, die durch ein paar graue Strähnen durchzogen waren. Zwei dunkle Augen unter markanten Brauen richteten sich auf Pippa, die sie bloß verwundert anschaute.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte die Frau mit einer tiefen, leicht schleppenden Stimme, so wie sie Leute hatten, die sich den Dialekt mit dem sie aufgewachsen waren, abtrainiert hatte. Pippa tippte auf Bayern, hätte dafür aber nicht die Hand ins Feuer gelegt.
Plötzlich bemerkte sie, wie unhöflich sie zu der Frau herüber starrte. „Ja, äh …“, stammelte sie. „Ich suche Frau Fitzek. Helene Fitzek.“ Abschätzig legte die Frau, die sicher mindesten 1,80 maß, die Hand in die Hüften und legte den Kopf schief. „Und wer möchte das wissen?“
„Pippa Andersson“, stellte sie sich hastig vor. „Kennen Sie sie zufällig? Man sagte mir, ihr Gartenhaus hätte eine, nun ja, ähnliche Färbung wie ihres.“
Die Frau lachte schallend auf. „Ist das etwa so? Wer hat ihnen das denn gesagt?“
Nun stapfte die Frau auf sie zu und Pippa bemerkte, dass sie den linken Fuß in einer Schiene trug, so wie man es bei einem Bänderriss tat. Für die Verletzung aber war die Frau ausnehmend gut zu Fuß. Außer der Bewegungseinschränkung durch die Schiene schien es ihr an nichts zu fehlen.
„Ihre Nachbarin. Wissen Sie zufällig, wo sie sein könnte?“
„Das kommt wohl ein wenig darauf an, warum Sie das wissen wollen.“
Jetzt dämmerte es Pippa, dass sie Frau Fitzek bereits vor sich hatte. Was für ein dummer Fehler. Die Frau sah aber auch überhaupt nicht so aus, wie sie sich eine Rentnerin und Kleingärtnerin vorgestellt hätte. Für ihr Alter hatte sie noch eine derartige Menge an Sexappeal, dass sie sie sofort als Seniorenmodell gebucht hätte. Die vollen Lippen, die ausdrucksvollen Augen und die stolze Haltung. Dass sie schon Ende sechzig war, merkte man ihr wirklich nicht an.
„Ich bin Journalistin und recherchiere zum Fall Prinzessin Mathilde. Sie wissen ja, ihr Todestag jährt sich zum dreißigsten [Oder?] Mal.“ Die alte Frau antwortete nicht und zeigte mit keiner Miene, dass sie wusste, wovon Pippa sprach. „Wir haben Informationen aus Süddeutschland, dass Sie eine enge Vertraute von ihr gewesen sind.“
Ihr Gegenüber sah sie mit gerunzelter Stirn an und schüttelte unwillig den Kopf.
„Und wegen so eines Ammenmärchens schlagen Sie hier in meinem Garten auf?“ Empört stieß sie die Luft aus. Doch Pippa registrierte augenblicklich die Tatsache, dass sie die Idee nicht von vornherein abstritt. Vielleicht war also wirklich etwas daran.
„Ich habe es ein paar Mal telefonisch versucht, Ihnen auf den Anrufbeantworter gesprochen und habe heute zwei Stunden vor ihrer Eingangstür gewartet. Leider waren Sie nicht zu erreichen.“
[So dringend?]„Ist Ihnen vielleicht der Gedanke gekommen, dass ich Sie zurückgerufen hätte, wenn ich mit Ihnen hätte sprechen wollen?“
Nun verschränkte Pippa ihrerseits die Arme vor der Brust.
„Frau W aus M hat mir verraten, dass sie in engem Kontakt mit der Kronprinzessin waren, dass sie quasi alte Kindheitsfreundinnen sind. Was sagen Sie dazu?“
„So so, das hat sie also. Kommt Ihnen gar nicht die Idee dass, wenn dem tatsächlich so wäre, sicherlich nicht mit Ihnen sprechen würde? Nach all dem, was die Paparazzi in ihrem Leben angerichtet haben? Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen. Einen schönen Tag noch.“ Die Frau wandte sich zum Gehen.
Verdammt, das war wirklich eine harte Nuss.
„Ich will gar nicht viel von Ihrer kostbaren Zeit stehlen. Die Zeitung ist auch immer gern gewillt, den Aufwand, den ein Zeuge hat, zu vergüten, wenn es Ihnen vielleicht darum geht?“ Als Antwort erntete sie nur ein Schnauben. Die Frau war im Begriff, die Tür ihres Gartenhäuschens zu verschließen. Mit einem Hechtsprung nach vor gelang es Pippa, einen ihrer Stilettos in der Tür zu platzieren, so dass diese nicht ganz geschlossen werden konnte.
„Wem kann es nach all dieser Zeit denn schaden, wenn Sie mit mir sprechen?“, versuchte sie es nochmal flehentlich und dachte an die zu erwartende Reaktion ihres Chefs, wenn sie heute mit leeren Händen kam.
„Wollen Sie mich für blöd verkaufen?“, kam es zurück. „Solange die Kinder noch leben, gibt es Menschen, denen ein erneutes Aufrollen der Geschichte schaden könnte, denken Sie nicht?“
„Vermutlich haben Sie Recht“, rief Pippa beschwichtigend durch die Tür. Im Augenwinkel sah sie, wie im Nachbarhäuschen vorsichtig das Fenster aufgemacht wurde. Offenbar wurde ihre Show gerade mit großem Interesse verfolgt. „Trotzdem haben die Menschen ein Recht auf die Wahrheit.“
Zornig stieß die alte Frau die Tür wieder auf und sah Pippa mit blitzenden Augen ins Gesicht. „Niemand hat hier ein Recht auf irgendetwas, verstehen Sie, niemand! Nicht nach allem, was die Leute, allen voran die Presse ihr angetan haben. Sie hat es jedenfalls nicht verdient, dass auch noch ihr Andenken geschmäht wird!“
Pippa beobachtete den Schmerz, der sich in den Augen der alten Frau zeigte, und wusste plötzlich, dass ihre Quelle recht gehabt hatte und dass das hier die Frau war, nach der sie schon so lange gesucht hatten. Die Frau, die endlich Gewissheit über das Geheimnis der dänischen Kornprinzessin bringen konnte. Wenn sie denn mit ihr sprach. Auf einmal erwachte ihr Jagdinstinkt erneut. Wie konnte sie die Frau bloß dazu bringen, ihre Geschichte zu erzählen?
„Und jetzt verschwinden Sie!“, grollte die Frau. „Verschwinden Sie oder ich hole die Polizei! Das hier ist Hausfriedensbruch.“
Pippa hob beschwichtigend die Hände. „Ok, ok, ich habe verstanden. Falls Sie es sich anders überlegend sollten, oder falls Ihnen etwas einfällt, was Ihnen als Gegenleistung für Ihr Vertrauen einfallen sollte, zögern Sie nicht, mich anzurufen. Hier ist meine Nummer.“ Sie streckte der Frau ihre Visitenkarte hin. Diese machte jedoch keine Anstalten, sie in die Hand zu nehmen. Schulterzuckend platziert Pippa sie schließlich auf einem Holzpflock, der zum Zaun gehörte und wandte sich zum Gehen. Gerade als sie die Gartenpforte öffnen wollte, bog ein Mann um die Ecke und sie stießen beinahe zusammen.
„Huch!“, machte Pippa erschrocken und blickte in ein paar fragend zusammengezogene braune Augen.
„Kennen wir uns?“, erkundigte der Mann sich und legte prüfend den Kopf schief. Seltsamerweise hatte auch die das Gefühl, ihn schon von irgendwoher zu sehen, doch von wo? Ergebnislos durchforstete sie ihr Gehirn. Doch leider fiel es ihn nicht ein, woher sie den Mann mit den wuscheligen Surferhaaren mit den sonnengebleichten Strähnen wohl schon einmal gesehen hatte.
[Haben sie sich schon mal gesehen?]„Tante Lene, wolltest du mir deinen Gast etwa vorenthalten?“, erkundigte er sich mit einem Lächeln, das sein gesamtes Gesicht aufhellte, bei der alten Frau.
„Gideon, da bist du ja endlich“, flötete diese und kam schwer humpelnd auf ihn zu. „Die Dame ist eine Journalistin und wollte gerade gehen.“
[Pippa wundert sich, weil sie vorher normal gehen konnte]Die alte Frau streckte Pippa die Karte wieder hin. Augenblicklich verfinsterte sich das Gesicht des Mannes und von dem Charme, den es eben noch gesprüht hatte, war nichts mehr zu sehen. Man konnte meinen, dass sich ein beträchtlicher Sturm zusammenbraute.
„Journalistin?“ Er spuckte das Wort beinahe aus. „Was soll das? Versuchen Sie es jetzt schon über meine Tante?“ Er baute sich drohend vor ihr auf. Pippa wich sicherheitshalber einen Schritt zurück. Interessiert blickte sie zwischen Neffe und Tante hin und her. Wer mochte er bloß sein, dass er den Besuch der Presse augenblicklich auf sich bezog?
Nachdenklich blickte seine Tante der jungen Frau hinterher, dann wandte sie sich an Gideon. „Komm her, mein Lieber, wie schön, dich zu sehen!“
Sie nahm ihn in die Arme und drückte ihn an sich. Dann schob sie ihn wieder auf Abstand und studierte prüfend seinen Allgemeinzustand. „Du siehst blass aus! Warst du schon wieder zu viel nachts unterwegs?“
Er lachte. „Komm, Tante Lene!“ Er betonte das Wort „Tante“, weil er wusste, dass sie das wurmen würde. Sie hatte schon früher immer gesagt, dass sie bei dem Wort „Tante“ immer an die Frauen der „Golden Girls“ und den Geruch von „Kölnisch Wasser“ denken würde.
Und tatsächlich: Weder verströmte sie den typischen Geruch alter Menschen, noch ließ sie sich von ihrer gewohnten Kleidung abbringen. Wenn sie sich mal herabließ, ihn abends in einen Club zu begleiten, was durchaus schon vorgekommen war, dann war sie im Handumdrehen von einer bewundernden Traube junger Menschen umringt, die nicht fassen konnten, was für eine coole Socke sie war.
„Du bist ja bloß neidisch, dass ich dich nicht mitgenommen habe!“
„Pah!“, pfiff sie durch die Zähne. „Du weißt genau, dass ich dem ganzen Trubel nicht mehr so viel abgewinnen kann. Ich höre lieber hier die Bienen summen, als der Dröhnen der Bässe mit der heute so eintönig gewordenen Musik.“
Er grinste nur. Schließlich grinste sie zurück und musste lachen. Dann aber wurde sie wieder ernst.
„Wie geht es dir? Ich habe dich viel zu lange nicht gesehen!“
Nun spürte er das schlechte Gewissen in sich aufsteigen. Er wusste, dass sie sich zurecht Sorgen um ihn machte. Die Ereignisse der letzten Jahre hatten ihn in mancher Hinsicht leichtsinnig und vielleicht auch ein wenig instabil werden lassen.
„Du weißt, dass ich mir Sorgen um dich mache. Seit vier Wochen träume ich die ganze Zeit, dass es dir nicht gut geht.“
Ja, ja, die Lene und ihre Träume. Gideon wusste nicht, ob sie tatsächlich hellsichtig war, oder einfach nur eine gute Intuition besaß, aber im Grund hatte sie recht. Er war wieder dabei gewesen, sich ganz schön gehen zu lassen. Hatte ein bisschen zu oft Stripperinnen in Clubs aufgerissen und ganze Nächte mit Aufputschmitteln gefeiert. Es stimmte, momentan fiel es ihm schwer, wieder auf Spur zu kommen.
„Vermutlich habe ich es deshalb lieber vermieden, hier aufzuschlagen“, entgegnete er wahrheitsgemäß.
Sie seufzte und lächelte das liebevolle Lächeln, dass ihm stets viel mehr zuhause gewesen war, als das seiner Eltern und seiner Schwestern zusammen. Wenn sie nicht gewesen wäre, mit dieser sanften Hartnäckigkeit und dem unbeirrbaren Glauben an seinen guten Kern …
„Komm erstmal rein, ich mache uns einen Kaffee.“
Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging auf das kleine Häuschen zu, in dem, so erschien es ihm, mehr und mehr die Seele seiner Besitzerin zu wohnen schien. Die Zweizimmer-Wohnung in Hamm besaß sie nur, weil sie hier nicht übernachten durfte. Ansonsten wäre sie sicher längst komplett hergezogen, zu ihren Kräutern, Räucherstäbcheb, Feuerstellen.
Manchmal erschien sie ihm wie eine Hexe oder so eine weise Frau aus einer alten Geschichte. Vielleicht so wie Morgana aus der Artus-Saga, die er als kleiner Junge so verschlungen hatte. Mit ihren langen, ringbesetzten Fingern stellte sie die kleine Mokkakanne auf die einzige Kochplatte in der winzigen Kochnische. Gideon nahm an, dass sie sich die elektrische Platte nur aus dem einzigen Grund angeschafft hatte, sich hier ihren geliebten Mokka zuzubereiten. Denn er hatte sie noch nie etwas anderes kochen gesehen.
Er hatte sie überhaupt selten etwas essen gesehen und vermutetet, dass sie nur von Rohkost und Nüssen lebte. Ihre ausgeprägten, weiblichen Rundungen schien das allerdings nicht zu beeinträchtigen. Vielleicht bestellte sie sich auch abends, wenn niemand zusah Fastfood bei irgendeinem Lieferservice oder war Stammkundin bei dem Dönerladen, der sich bei ihr in Hamm um die Ecke befand.
Großzügig füllte sie die reich verzierte Mokkakanne mit Pulver aus der kleinen Kaffeemühle, warf eine Kardamonkapsel mit hinein und goss Wasser darauf. Er erinnerte sich noch gut daran, wie ihn als Kind die Geschichten ihrer Reisen in ferne Länder fasziniert hatten. Eine ganze Weile lang hatte sie in Marrakesch gelebt. Als dritte Frau eines unfassbar reichen Scheichs und in einem Harem, zumindest behauptete sie das.
Möglicherweise entsprang dieser Teil der Geschichte ihrer reichen Fantasie. Allerdings wusste man bei Helene Fitzek nie so ganz genau, wo die Realität endete und die Fantasie begann. Tatsache war, dass die in ihrer Jugend in vielen verschiedenen Ländern gelebt hatte und eine ganze Menge an fantastischen Geschichten auf Lager hatte, denen er als Kind mit glänzenden Augen gelauscht hatte. Überhaupt war es damals gewesen, als wäre jedes Mal, wenn er sie getroffen hatte, seine ansonsten schwarz-weiße Welt in Farbe getaucht worden.
Schweigend widmetet sie sich ganz der Zubereitung. Erst als sie der tiefbraunen Flüssigkeit noch zwei großzügige Teelöffel Zucker hinzugefügt hatte, goss sie sie in zwei zierliche Tässchen, setzte sich an den wackeligen Esstisch mit den zwei nicht zusammenpassenden, dafür gelb angestrichenen Stühlen und sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an.
„Also, womit verbringst du in letzter Zeit deine Tage? Bist du immer noch nur nachts unterwegs wie ein Vampir auf der Suche nach Blut und Opfern?“
„Manchmal arbeite ich auch“, entgegnete er langsam und sah sie wachsam an. Sie seufzte. „Sei mir nicht böse. Ich will doch nur dein Bestes.“
„Ich weiß. Aber irgendwie ist es mein verkorkstes Leben, nicht wahr?“
„Ich frage mich, wie du jemals ein nettes Mädchen kennenlernen möchtest, wenn du sie alle mit deiner unfreundlichen Art verschreckst!“, sagte sie plötzlich.
Gideon verschluckte sich beinahe an dem Kaffee in seinem Mund. Hatte er richtig gehört? An ihrem leichten Augenzwinkern erkannte er den kleinen Scherz.
„Nettes Mädchen? Du hast sie gerade aus deinem Garten geschmissen und mit der Polizei gedroht!“ Er lachte schallend auf. „Das klang nicht so, als wäre sie deine neue beste Freundin.“
Bedächtig rührte sie in ihrer Tasse. „Das ist eine Sache zwischen uns“, beschied sie ihm dann. „Du hättest trotzdem nett zu ihr sein können. Hast du ihre Beine nicht bemerkt?“
Mit funkelnden Augen sah er sie an. „Denkst du wirklich, dass ich ein Problem habe, Mädchen mit langen Beinen kennenzulernen?“ Innerlich gab er zu, dass sie wirklich ausnehmend hübsche lange Beine gehabt hatte, wenn er jetzt länger darüber nachdachte. Beine, die in einer anderen Situation möglicherweise seine Fantasie und seinen Jagdtrieb geweckt hätten. Auch die großen grünen Augen und der herzförmige Mund hätten einer längeren Betrachtung standgehalten. Aber eine Journalistin der Regenbogenpresse war nun wirklich das letzte, was für ihn infrage kam.
Nun lachte Lene ihr dunkles, kehliges Lachen, das er an ihr so liebte. Dieses Lachen hatte schon oft seine Welt erhellt, wenn seine Eltern ihm mal wieder wenig zum Lachen gegeben hatten. „Ich meinte ein nettes Mädchen!“
„Definiere nett! Ein Mädchen, das mich für eine gute Story stalkt und sogar meiner Tante in ihrem Schrebergarten auflauert?“
„Du glaubst aber auch, dass die ganze Welt sich nur um dich dreht. Schon mal darüber nachgedacht, dass sie eventuell wegen mir hier gewesen sein könnte?“
Verwundert kniff er die Augen zusammen. „Machst du dich über mich lustig?“
„Ganz und gar nicht. Die junge Dame wollte mich interviewen!“
„So richtige angetan schienst du von der Idee aber auch nicht gewesen zu sein.“
„Da hast du wohl recht.“
Sie schwenkte den Rest von Kaffeesatz in ihrer Tasse und drehte sie mit einem Ruck um. Auffordernd sah sie ihn an. Schulterzuckend machte er ihr die Geste nach, bis auf seine Tasse falsch herum auf der Untertasse stand.
„Komm schon, was wollte sie denn, wenn nicht eine weitere blöde Geschichte über mich? Vielleicht über meine verkorkste Jugend und die Skandale, die ich bereits in der Grundschule angezettelt habe?“
Sanft strich sie ihm über die Hand. „Sie wollte mich tatsächlich nach einer Geschichte aus meiner Jugend fragen. Über die ich allerdings nicht reden möchte.“
Nun sah er sie neugierig an. „Über deine Reisen?“
Nun glitt ein Schatten über ihr Gesicht. „Nein. Über das davor.“
Er wartete ab. Doch sie schien nichts weiter dazu sagen zu wollen. Als wäre das ihr Stichwort, drehte sie ihre Kaffeetasse um und blickte prüfend auf ihren Kaffeesatz. Plötzlich erbleichte sie. Er beobachtete besorgt, wie sie die Lippen zusammenkniff, dann ganz gezielt ausatmete, wie um einen unliebsamen Gedanken loszuwerden. Er fragte sich, was sie glaubte, gesehen zu haben. Bislang hatte er noch nie das Gefühl gehabt, als würde sie das, was sie sah, aus der Ruhe bringen können.
Antworten für die Zukunft in den Mustern zu suchen, die sich in der Mokkatasse bildeten, wenn man sich nach dem Trinken umdrehte, war ein Ritual, dass sie schon lange mit ihm praktizierte. Meist endete es damit, dass sie versuchte, ihn über die Schule, später dann über die Arbeit auszufragen. Daher wunderte er sich nicht, als sie fordernd die Hand ausstreckte. Gehorsam schob er ihr seine Tasse hinüber und beobachtete, wie sie diese in Augenschein nahm. Ein nachdenklicher Ausdruck erschien in ihrem Gesicht. Dann schien sie, als dem, was sie gesehen hatte, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen und die Lippen verzogen sich zu einem feinen Lächeln.
„Kenne ich die Geschichte schon?“, erkundigte er sich schließlich.
„Nein“, entgegnetet sie nach einer Weile.
„Erzählst du sie mir?“
„Nein“, wiederholte sie und seufzte. Dann setzte sie ein Lächeln auf. „Erzähl mal. Was macht der Rest der glücklichen Familie? Wie geht es meinem geschätzten großen Bruder?“
Er verstand. Sie wollte das Thema wechseln. „Das weißt du ganz sicher besser als ich. Seit Weihnachten halte ich Abstand und habe nicht vor, das zu ändern.“
„Guter Junge“, grinste sie. „Das wurde aber auch mal Zeit. Die haben dich nämlich überhaupt nicht verdient.“ Er grinste unfroh. Dann deutete er auf die Schiene an ihrem Knie.
„Was ist das?“
„Oh, als ich versucht habe, das Dach zu reparieren, habe ich mir leider die Kniesehne gerissen und nun darf ich drei Monate humpeln.“
Sie zuckte traurig mit den Schultern. Er unterdrückte das aufkommende schlechte Gewissen. Hätte er sich mehr kümmern müssen? So ein Mist, jetzt hatte sie ihn am Wickel. Das schien sie sehr gut zu wissen, denn sie beobachtete ihn ganz genau über die Gläser ihrer Hornbrille hinweg.
„Ok, du hast gewonnen, wo ist die Leiter?“