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Ausgerechnet Heiligabend

Hier gibt es einen exklusiven, unveröffentlichten Ausschnitt aus meinem neuen Roman „Puccini zum Frühstück“.

Diese Erzählung ist Teil des Autoren-Adventskalenders, wo ihr jeden Tag eine neue, wunderbare Geschichte entdecken könnt.

Falls sie Euch gefallen hat und ihr mehr von mir lesen wollt, habt ihr zwei Möglichkeiten. Ihr lest zunächst einmal meinen ersten Roman „Wer den Frosch küsst“, oder ihr meldet euch auf meinen Newsletter an, dann erfahrt ihr als erstes, wann „Puccini zum Frühstück“ veröffentlicht wird.

Mit gemischten Gefühlen bestieg Charlie an Heiligabend die Regionalbahn in Richtung Hamburg und stellte sich darauf ein, in das prunkvolle Nest ihrer Familie zurückzukehren. Der Waggon war zum Bersten gefüllte. Sie hatte Schwierigkeiten, mit ihrem kleinen Koffer überhaupt einen Stehplatz zu bekommen.

Die mollige Frau, neben die sie sich quetschte, rollte mit den Augen und meinte: »Da hat bei der Bahn mal wieder keiner geahnt, dass kurz vor Weihnachten eventuell mehr Fahrgäste unterwegs sind.«

Charlie lachte. »Genau, das muss ungefähr dasselbe sein wie bei großer Hitze – wer braucht schon Klimaanlagen, wenn es total heiß ist!« Ihr Mantel war vorhin so nass geworden, dass sich zu ihren Füßen kleine Pfützen bildeten. Sowieso roch hier drinnen generell alles nach feuchter Kleidung und einem Döner Kebab, den ein Anzugträger zwei Sitzreihen rechts von ihr genüsslich verspeiste.

Als ein korpulenter Mann neben ihr den Arm hob, um sich am Haltegriff oben festzuhalten, stieg ihr ein übler Geruch nach altem Schweiß in die Nase. Rasch wandte sie den Kopf zur Seite. Am Bahnhof in Hamburg-Altona duftete es dafür verlockend nach Glühwein und Schmalzgebäck. Doch sie widerstand der Versuchung und wollte gerade zu dem Bus gehen, der sie die Elbchaussee hinunter zum Haus ihrer Familie bringen würde, als sie hinter sich jemanden rufen hörte.

»Na, wenn das nicht unsere Charlotte Sanders ist! Hallo!«

Überrascht drehte sie sich um und stand einem breitschultrigen Mann mit wettergegerbtem Gesicht und grauen Schläfen gegenüber, der sie um mehr als einen Kopf überragte. Er trug einen dunklen Anzug, den seine Schultern beinahe zu sprengen schienen, und eine Schirmmütze.

»Fred, was machen Sie denn hier?«

Fred war der Fahrer der Sanders und bei ihnen, seit Charlie sich erinnern konnte. Elli, die Haushälterin und Köchin, war seine Frau. Bei seinem Lächeln wurde ihr warm ums Herz. In der Tat hatten ihre positivsten Kindheitserinnerungen mit diesen beiden Menschen zu tun. Sie hatten dem einsamen Kind, das sie gewesen war, Mitleid und Sympathie entgegengebracht. Denn sie hatte es zu ihrem Leidwesen nie geschafft, den hohen Ansprüchen ihrer Familie zu genügen. Früher hatte sie oft darum gebetet, dass diese beiden ihre Eltern wären.

»Ich warte hier seit eineinhalb Stunden. Ihre Mutter war sich sicher, dass Sie spätestens diesen Zug bekommen würden.« Ein schelmisches Grinsen erschien in seinem Gesicht und Charlie freute sich plötzlich doch ein wenig, dass sie in Hamburg war.

Fred hievte ihren Koffer in den Kofferraum, stieg dann in die schwarze Limousine und sie fuhren los. Plötzlich war alles so wie früher. Charlie fühlte sich, als wäre sie nie weg gewesen. Als hätte sie nie die Flügel ausgebreitet, um dem Einfluss ihrer Mutter zu entgehen.

»Wie geht es Elli?«

»Na ja, natürlich hält deine Mutter sie eifrig auf Trab, besonders wegen der Feiertage, aber das ist ja nichts Neues.« Sie sah ihn im Rückspiegel lächeln. Nun, da nur sie beide im Auto waren, wechselte er auf das vertraulichere »Du«.

Auch das hatte er schon immer so gehalten.

»Aber wie geht es denn unserer Charlie? Wir haben ewig nichts von dir gehört.« Sie bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie, seit sie in Marienburg lebte, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und allem, was nach Hamburg gehörte, hatte bringen wollen. Das schloss leider auch die Menschen ein, die eine Funkstille nicht verdienten.

»Entschuldige«, sagte sie kleinlaut, »ich hätte wirklich mal anrufen können.«

»Schon gut. Wir sind glücklich, wenn es dir gut geht.« Nach einer winzigen Pause fügte er hinzu: »Es geht dir doch gut, oder?«

Charlie wurde warm ums Herz, als sie die Besorgnis in seiner Stimme vernahm. »Ja. Es ist toll für mich, mein eigenes Leben zu führen.«

»Das wird Elli freuen.«

Charlie lächelte. Elli war die herzlichste Person, die sie kannte, und vermutlich der einzige Grund, warum Charlie in ihrer ichbezogenen Familie nicht untergegangen war. Diese Frau, die sicherlich auch selbst eine wunderbare Mutter gewesen wäre, war ihr Ruhepol, diejenige, zu der Charlie sich als Kind geflüchtet hatte, wenn sie Trost brauchte.

Auf den Straßen herrschte bereits Weihnachtsstimmung. Sie waren wie leergefegt. Ungewöhnlich kurz dauerte die Strecke vom Bahnhof Altona die Elbchaussee hinunter. Fred bog in die hellerleuchtete Einfahrt hinein, an deren Ende sich majestätisch und leuchtend weiß die Familienvilla der Sanders erhob. Eigentlich war sie mit den zwei Flügeln sogar mehr ein Palast und eines der größten Häuser, die man im noblen Othmarschen finden konnte. Der Ort von Charlies Kindheit.Er hielt ihr die Tür auf, doch sie zögerte. Plötzlich legte sich Beklommenheit wie ein schwerer Stein auf ihre Seele. War es ein Fehler zurückzukommen? Ein Teil von ihr sehnte sich danach, kurzerhand die Fäden zu durchtrennen, die sie an ihre Familie band und sofort wieder nach Marienburg zu fahren. Mit Füßen wie aus Blei stieg sie schließlich aus und musste sich zwingen, in das Haupthaus zu gehen, anstatt durch den Dienstboteneingang in die sicheren Gefilde der Küche zu fliehen.

»Da bist du ja«, stellte ihre Mutter fest, nachdem Charlie das Wohnzimmer betreten hatte, in dem ein gigantischer Weihnachtsbaum posierte. Jedes Jahr wurde er nach der allerneuesten Mode geschmückt. Diesmal war er regenbogenfarben geworden und die Ahnen auf den Wandgemälden schienen Charlie noch finsterer anzugucken als sonst.

Ihre Mutter legte gemächlich die Modezeitschrift auf den Teakholztisch, erhob sich und gab ihr die obligatorischen zwei Küsse. Das und ein Streichen über den Kopf, wenn Gäste da waren, waren so ziemlich alle Zärtlichkeiten, die Charlie mit ihrer Mutter je geteilt hatte. Dann schob sie ihre Tochter mit beiden Armen von sich und musterte sie prüfend. Irina, das russische Starmodell, hatte in ihrem zweiten Jahr im Westen zielstrebig ihre persönliche Zukunft abgesichert und den zwanzig Jahre älteren Spross einer ursprünglich aus Holland stammenden Kaufmannsdynastie geheiratet. Natürlich erwartete sie von ihrer Tochter, dass sie genauso diszipliniert und schön sein würde wie sie selbst. Festzustellen, dass diese ihr nur ganz wenig ähnelte, war eine derartige Enttäuschung für sie gewesen, dass sie ihre Zuneigung lieber auf den älteren Sohn konzentrierte. Es schien ihr nicht lohnend, sich um die unscheinbare und auch noch pummelige Tochter zu kümmern, die ihr niemals das Wasser reichen würde.

Vermutlich war der schlimmste Schlag für Irina Sanders gewesen, dass sie, der man vier Wochen nach der Geburt ihrer Kinder die Schwangerschaft nicht mehr ansehen konnte, eine Tochter hatte, die ihre Probleme mit Sahnetorten erstickte. Die wenigen Momente, in denen die kleine Charlie sich der Aufmerksamkeit ihrer Mutter sicher sein konnte, waren die, wenn sie mal wieder dicker geworden war. Dann hatte Irina ihr eine Rede über Disziplin gehalten, damals noch mit stark russischem Akzent. Das war noch so eine Sache. Obwohl Charlie fließend Russisch sprach, unterhielten sich Mutter und Tochter niemals in dieser Sprache. Vielleicht war das für Irina Sanders einfach zu viel der Intimität.

»Sieht so aus, als hättest du wenigstens etwas abgenommen«, bemerkte Irina Sanders nun. »Dann scheint das Arbeiten ja doch zu etwas gut zu sein.«

Ihre Mutter wandte sich wieder der Zeitschrift zu und die Audienz war beendet. Charlie kannte es nicht anders. Sie hätte sich schlichtweg gewundert, wenn Irina plötzlich Interesse an ihrem Beruf oder ihren Erfahrungen in Marienburg gehabt hätte. Mittlerweile konnte das Desinteresse ihrer Mutter sie nicht mehr verletzen. Aber sie wusste noch genau, wie sie als Kind vergeblich um die Aufmerksamkeit dieser perfekten Frau gebuhlt hatte, die Charlie in ihrem ganzen Leben noch nie ungeschminkt gesehen hatte. Der Frau, die einer Freundin einmal gestanden hatte – in Charlies Beisein wohlgemerkt –, dass sie das Tamtam, das andere Leute um ihre Kinder machten, nicht nachvollziehen konnte. Vermutlich war sie erleichtert gewesen, nach zwei gesunden Kindern ihre Pflichten als Ehefrau erfüllt zu haben und sich wieder ihrem luxuriösen Lebensstil widmen zu können. An den meisten Tagen hatte Charlie ihre Mutter nur abends, bevor die Eltern ausgingen, zum obligatorischen »Gutenachtkuss« gesehen.

»Ich gehe mich umziehen«, sagte sie und stieg, ohne eine Antwort abzuwarten, hoch in ihr Zimmer. Sie fragte sich, warum es ihrer Mutter so wichtig war, dass sie frühzeitig hier war, wenn sie sich doch nicht mit ihr abgeben wollte.Ihr Zimmer war unverändert. Picobello aufgeräumt, mit nur wenigen Gegenständen, die zeigten, dass es einmal ein Kinderzimmer gewesen war. Ihre Mutter hasste Unordnung. Die Berge von Spielzeug, die es immer an Weihnachten gegeben hatte, waren stets zügig in Richtung Dachboden aussortiert und dann höchstwahrscheinlich entsorgt worden, damit diese nicht das ›Schöner Wohnen Ambiente‹ im Haus störten.

Irina Sanders, selbst aus ärmlichen Verhältnissen in Russland stammend, über die sie sich weigerte zu sprechen, war mit dem unbedingten Willen ausgestattet, jemand zu sein, zu dem andere aufschauten. Seitdem Geld keine Rolle mehr für sie spielte, kaufte sie sich Luxus und eleganten Stil. Mindestens einmal im Jahr hatte sie eine Innenarchitektin engagiert, die dafür sorgte, dass das Interieur der 450 Quadratmeter großen Bauhaus-Villa den vermeintlich exquisiten Geschmack der Hausherrin repräsentierte. Genauso verfuhr sie mit ihrer Kleidung. Als ehemaliges Model war sie es gewöhnt, Stylisten zu beschäftigen, um nichts dem Zufall zu überlassen. Charlie öffnete den Kleiderschrank, in dem mehrere Tages- und Abendkleider auf sie warteten und zog seufzend ein dunkelgrünes Samtkleid heraus, das ihre Rundungen mehr oder weniger erfolgreich kaschierte.

Als sie umgezogen war, schlich sie in die Küche, um Elli »Hallo« zu sagen. Sie fand die Haushälterin am großen Tisch vor, wie sie soeben mehrere Baguettes vorbereitete. »Hm, das riecht gut.« Schnuppernd stand Charlie in der Tür. Den Backkünsten von Elli konnte niemand das Wasser reichen.»Charlie! Wie schön, dich zu sehen!« Sie wollte Charlie drücken, dann fiel ihr auf, dass sie von oben bis unten mit Mehl bedeckt war. Sie deutete eine Umarmung in der Luft an und ging zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen und hängte die Schürze an einen Haken.

»Wie geht es dir? Hast du Hunger?«, rief sie Charlie über die Schulter hinweg zu.»Eigentlich nicht, aber wenn ich das hier rieche …«

Mit nun sauberen Händen drehte Elli sich zu ihr um, kam auf Charlie zu und nahm sie tüchtig in den Arm. Charlie sank an ihren ausladenden Busen. Dann stellte Elli ihr breit grinsend einen Teller mit Franzbrötchen und einen Milchkaffee hin.

»Erzähl mal, wie ist das wilde Theaterleben?« Neugierig beugte sie sich vor und sah Charlie mit glänzenden Augen an. »Hast du schon einen feschen Mann kennengelernt?«

Charlie musste lachen. Elli war ein begeisterter Operettenfan und stellte sich das Leben am Theater gern wie eine ebensolche vor.

»Schön wär’s!«, erwiderte Charlie seufzend. Auf einmal wanderten ihre Gedanken zu Jonathan. Was er jetzt wohl machte? Vielleicht hatte sich ein Lächeln in Charlies Gesicht geschlichen oder es lag an Ellis siebten Sinn. Augenblicklich jedenfalls leuchteten Ellis Augen wissend.

»Das gibt es doch nicht! Unsere Charlie ist verliebt! Ich habe Fred ja immer gesagt, wart’s ab, habe ich gesagt, da muss einfach mal der Richtige kommen! Wer ist es? Ich will alles wissen! Ein Dirigent? Oder ein Sänger? Bestimmt ein Tenor, oder?« Sofort begann sie, ›Dein ist mein ganzes Herz‹ zu summen.

Charlie musste über ihre Begeisterung lachen und brachte es nicht über sich, es ihrer mütterlichen Freundin gegenüber abzustreiten.

»Es gibt leider nicht allzu viel zu erzählen, wenn sich der Angebetete leider nicht für einen interessiert, oder?«

»Ach, wie schade! Auch noch unglücklich verliebt? Aber warte es nur ab. So einer schönen jungen Frau wird er nicht allzu lange entkommen können. Du musst es nur richtig anstellen. Pass auf. Es gibt ein paar überraschende Wendungen und dann ganz sicher ein Happy End!«

Charlie musste daran denken, wie sie sich in ihrer Jugend immer mit Elli über die Heldinnen in Jane Austens Romanen unterhalten hatte. Elli war eine hoffnungslose Romantikerin und vielleicht war auch das der Grund, warum Charlie sich in jemanden wie Jonathan verliebt hatte. »Wenn du doch bloß recht hättest!«

Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und dachte daran, wie wundervoll es wäre, eine eigene Familie zu haben. Mit ihren eigenen Kindern würde sie alles anders machen, das hatte sie sich geschworen. Sie würden in Liebe und Geborgenheit aufwachsen und sich so viel schmutzig machen dürfen, wie sie nur wollten.»Hier bist du!«, erklang wie auf Stichwort die erboste Stimme ihrer Mutter hinter ihr. Ihre schwarzen Augen sprühten Funken. »Man sollte meinen, dass du zuerst deinen Vater begrüßt!«Ja, das sollte man vielleicht, wenn die Dinge in ihrer Familie so wären wie bei normalen Leuten. Waren sie aber nicht. Charlie ballte kurz die Fäuste, schluckte ihren Ärger hinunter – vierundzwanzig Stunden würde sie das Ganze aushalten – und folgte ihr.

Pieter Sanders Arbeitszimmer war ein düsterer, holzgetäfelter Raum, der sich streng den Modernisierungsversuchen der Innenarchitektin und ihrer Mutter verweigerte. Als er Irina geheiratet hatte, hatte er ihr in allen Dingen freie Hand gelassen. Nur in seinem persönlichen Reich bestand er auf der Einrichtung, in der schon sein Großvater die Geschicke des Unternehmens gesteuert hatte. Er hob den Kopf, als sie hereinkamen, legte ein Dokument auf den Schreibtisch vor sich und fuhr mit seinem Rollstuhl auf sie zu.

»Charlie.«»Papa.«

Sie beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die welke Wange. Verwundert registrierte sie, wie sehr er seit dem letzten Mal gealtert war. Sicher, er saß schon seit einer Weile im Rollstuhl, aber hatte trotzdem vital gewirkt. Nun hatte sie das Gefühl, einen Greis vor sich zu haben. Ob er krank war?

»Wie schön, dass du dich auch mal wieder blicken lässt«, bemerkte er und das Lächeln seiner Lippen reichte nicht ganz bis in seine Augen.

»Ich habe sie in der Küche vorgefunden!«, mischte ihre Mutter sich ein.»Danke, meine Liebe«, erwiderte ihr Vater mit leiser Stimme. »Wann werden denn Henrik und seine Freundin hier ankommen?«

Das Strahlen, das nun in den Augen ihrer Mutter zu sehen war, gab Charlie einen wohlbekannten Stich ins Herz.»

So gegen sechszehn Uhr. Ist es nicht großartig? Da lernen wir die Freundin unseres Sohnes genau an Heiligabend kennen. Das muss doch etwas bedeuten, oder?«

Als sie später alle zusammen mit einem Glas Champagner am Kamin saßen, ahnte Charlie, dass die geheimen Wünsche ihrer Mutter in Erfüllung gegangen waren. Es schien fast, als hätte ihr Bruder sich in eine Doppelgängerin seiner Mutter verliebt. Viktoria – natürlich hieß sie Viktoria, wie konnte eine Freundin ihres mustergültigen Bruders auch sonst heißen – war eine großgewachsene, wunderschöne junge Frau mit strahlend blauen Augen, langen schwarzen Haaren und einer in jeder Hinsicht perfekten Figur. Zu allem Überfluss hatte sie soeben ihr Jurastudium summa cum laude abgeschlossen. Irina Sanders hing förmlich an ihren Lippen. Einmal mehr fühlte Charlie sich inmitten ihrer Familie fehl am Platz und betete, dass der Abend schnell vorbeigehen möge. Sie hielt sich, soweit es ging, aus den Gesprächen heraus, nickte nur hin und wieder und murmelte gelegentlich etwas Zustimmendes.

Doch schließlich machte Viktoria den schweren Fehler, sich direkt an Charlie zu wenden. Diese war in Gedanken gerade bei der Silvesterfeier, an der höchstwahrscheinlich auch Jonathan teilnehmen würde. Vielleicht, ja vielleicht wäre es möglich, dass …

»Charlie!« Die beißende Stimme ihrer Mutter riss sie aus ihren Gedanken.

»Wie bitte?« Sie hatte nicht mitbekommen, über was soeben geredet worden war. Viktoria lächelte sie charmant an und ließ ihre perlweißen Zähne aufblitzen. »Ich hatte gefragt, was du so machst. Bist du auch im Familienbetrieb tätig?«

Charlie sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Hat Henrik das noch gar nicht erzählt? Ich bin am Theater. Als Dramaturgin.« »Ach, das ist ja interessant! Nein, Henrik hat das gar nicht erwähnt.« Neckisch wandte sie sich zur Seite und stupste ihn an die Schulter. »Dass du aber auch aus allem immer so ein Geheimnis machen musst!« Sie drehte sich wieder zu Charlie. »Ihm muss man solche Sachen förmlich aus der Nase ziehen. Aber«, und hier beugte sie sich verschwörerisch vor, »momentan liest man ja überall, dass die Jobs am Theater ziemlich schlecht bezahlt sind?« Mit großen Augen blickte Viktoria sie an, als könnte sie sich nicht vorstellen, wie sich jemand freiwillig für einen schlecht bezahlten Job entscheiden konnte.

»Kann sein. Aber mir kommt es nicht auf das Geld an. Mir gefällt es dort.«

»Na ja, Charlotte muss ja auch nicht aufs Geld gucken«, mischte Irina Sanders sich ein und stieß ein kleines Lachen aus. »Das ist so etwas wie ein Hobby für sie, bis sie herausgefunden hat, was sie wirklich machen möchte. Probier doch noch etwas von diesen Auberginen.« Auffordernd deutete sie auf ein Tablett, auf dem gebackene Auberginen um eine Frischkäsefüllung gerollt lagen. Charlie presste die Zähne fest zusammen, um nicht laut losschreien zu müssen.

»Danke, deine Art der Unterstützung ist großartig.«

»Schon gut, lasst uns darüber nicht mehr sprechen.« Irina wandte sich an Viktoria, als wäre Charlie nicht mehr im Raum. »Charlotte wird irgendwann auch ihren Weg finden, etwas für diese Familie zu leisten.«

Der Tonfall ihrer Mutter war vordergründig freundlich. Aber Charlie wusste, wie sie das meinte. Auf einmal platzte ihr der Kragen und alle Emotionen, die sie so tief in sich vergraben hatte, bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche.

»Und du, Irina?«

Ihre Mutter kniff warnend die Augen zusammen, doch Charlie war nicht mehr zu stoppen.

»Was hast du für diese Familie getan? Außer dir einen reichen Mann zu angeln, meine ich!« Auf einmal wurde Irina blass um die Nase

.»Du wirst unverschämt!«, sagte sie mit vor Zorn zitternder Stimme. Da wusste Charlie plötzlich, dass genau jetzt und hier der Zeitpunkt gekommen war, an dem sie nicht mehr schweigen wollte. »Ich meine, was hast du hier geleistet? Du gibst das Geld meines Vaters in vollen Händen aus und dein einziger Beitrag dafür ist dein Aussehen. Du hast keine Bildung und kein Benehmen. Eigentlich kommst du aus der Gosse. Tu doch nicht immer so, als wärst du etwas Besseres!«

Das saß. Der ganze Raum war verstummt. Viktoria hatte sich peinlich berührt abgewandt, Henrik ballte die Fäuste und ihr Vater starrte sie entsetzt an. Es schien, als hätten alle die Luft angehalten. Ein Teil von Charlie bereute ihre Worte sofort wieder. Sie wusste genau, wie nachtragend ihre Mutter sein konnte. Doch der andere, größere Teil dachte: »Das fühlte sich gut an. Hätte ich längst mal machen sollen.«

»Pieter?«, wandte Irina Sanders sich mit zusammengekniffenen Lippen an ihren Mann. »Lässt du sie das einfach so sagen? Mich in meinem eigenen Haus so beleidigen?«

Müde sah ihr Vater auf, ließ wie ein trauriger Pudel die Schultern hängen. Dann räusperte er sich, tupfte sich umständlich mit der Serviette die Mundwinkel ab und kam zu einer Entscheidung.

»Charlotte …«, begann er zögernd, doch sie unterbrach ihn, weil sie ahnte, was kommen würde. Wie sehr sie sich wünschte, dass er für sie Partei ergriff. Leider war das fünfundzwanzig Jahre lang nicht geschehen.

»Spar dir deine Worte.« Sie bemerkte, wie ihre Stimme bebte. »Ich hätte ohnehin nicht herkommen sollen. Tut mir leid, Viktoria, wenn du unfreiwillig Zeugin eines Familienstreites geworden bist, aber … nun ja, ich fahre dann mal zurück nach Hause. In mein neues Zuhause. Und außerdem«, nun wandte sie sich an ihre Mutter, »ich verdiene mein eigenes Geld und brauche eure finanzielle Unterstützung nicht. Vielen Dank.«

Sie straffte ihre Schultern und ging mit weichen Knien aus dem Raum, hinauf in ihr Zimmer. Ihr Herz klopfte wie wild und ihre Hände zitterten, als sie sich das Kleid und die passenden Pumps auszog und wieder in Jeans und Pulli schlüpfte. Doch auf keinen Fall wollte sie jetzt weinen. Sie biss sich in die Mundwinkel, um die Tränen zu unterdrücken, die in ihr lauerten. Hastig packte sie ihre Sachen in den Trolley, tat noch ihre Lieblingspuppe und ihre beiden Tagebücher dazu und machte sich daran, das Haus zu verlassen und eventuell nie mehr zu betreten. Sie war wie erstarrt, als sie die Treppe herunterging. Ob noch eine Bahn in Richtung Marienburg fuhr? Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als es zu versuchen. Sie ging am Wohnzimmer vorbei, ohne sich zu verabschieden. Drinnen hörte sie leises Geflüster. Dann stand sie draußen im Regen.

Gerade wollte sie die Einfahrt hinuntergehen, als Fred neben ihr auftauchte und ihr sanft die Hand auf die Schulter legte.

»Elli hat mir erzählt, was passiert ist. Ich fahre dich.«

Sie wehrte ab. »Das ist nicht nötig, ich komme schon klar.« Es fühlte sich nicht richtig an, jetzt noch den Chauffeur der Familie in Anspruch zu nehmen. »Ich habe ohnehin schon Feierabend. Ich fahre dich, weil ich es möchte, in Ordnung?«

Sie packte ihren Koffer in den Kofferraum und öffnete die Beifahrertür. »Darf ich ausnahmsweise hier sitzen?«

Überrascht sah er sie an, nickte aber und startete den Motor. Erst als er zur A7 anstatt in Richtung des Bahnhofs fuhr, verstand sie, was er vorhatte. »Du kannst mich doch jetzt nicht bis nach Marienburg kutschieren. Das sind fast zwei Stunden für nur eine Strecke!«

»Natürlich kann ich und ich werde das auch. Glaubst du, ich lasse dich in dem Zustand einfach so am Bahnsteig zurück? Das würde Elli mir nie verzeihen, kannst du mir glauben.«

Diese Nettigkeit öffnete die letzten Schleusen in ihrem Inneren und ließ die Tränen herausströmen. Und weil es dunkel war, ließ sie diese fließen, versuchte nicht, sie zurückzuhalten, sondern atmete bloß so flach wie möglich, in der vagen Hoffnung, dass er ihr Weinen nicht bemerken würde. Schweigend fuhren sie durch die Nacht, doch dann schob er ihr stumm eine Kleenexpackung entgegen, die sie dankbar, aber ebenso wortlos entgegennahm.

Was für ein Glück, dass es wenigstens Fred und Elli gab. Ohne die beiden wäre sie wohl längst verrückt geworden. Ihre Nannys blieben in der Regel nur ein oder zwei Jahre. Diese beiden waren die einzigen Menschen, die immer freundlich zu ihr gewesen waren und sich nach Kräften um sie gekümmert hatten. Wie oft Elli sie vor ihrer Mutter gedeckt oder ihr das Abendessen aufs Zimmer gebracht hatte, wenn sie es aufgrund irgendeines Vergehens nicht bekommen sollte. »Ich werde so schnell nicht wiederkommen«, sagte sie schließlich, als sie schon eine Stunde unterwegs waren und an Bremen vorbeifuhren.

Draußen weinte der Himmel ihre Tränen weiter, die mittlerweile versiegt waren, und ihr wurde klar, dass es ihr um nichts schade war, außer um Fred und Elli. Vielleicht war das ihre Gelegenheit auf ein eigenes Leben. Endlich herauszufinden, wer sie war. Auf jeden Fall war sie ohne die Unterstützung ihrer Eltern erheblich ärmer als vorher. Nun brauchte sie ihren Job dringender als je zuvor. Ein ungekanntes Gefühl der Angst breitete sich aus. Was wäre, wenn beim nächsten Gespräch mit dem Intendanten ihre Entlassung und nicht ihre Beförderung Thema wäre?

»So schlimm?«, fragte er leise. Er war kein Mann großer Worte.

»Ja. Aber ich melde mich bei euch, ok?«

»Bitte, sonst machen wir uns die ganze Zeit Sorgen. Auf Ellis Handy am besten.« Inzwischen regten sich die beiden über die Art und Weise, wie die Sanders ihre Kinder erzogen, nicht mehr auf. Vor Jahren einmal hatte es einen Moment gegeben, wo Elli das Ganze nicht mehr aushielt und Fred bekniete zu gehen. Doch seine Frage »Und was ist dann mit Charlie?« bewog sie zu bleiben. Vermutlich war es nur ihnen zu verdanken, dass die Tochter ihrer Arbeitgeber nicht wie so einige Kinder aus ihrem Bekanntenkreis den Ausweg über die Drogen suchte. Nicht nur in Charlies Elternhaus war nicht alles Gold, was glänzte.

Um ein Uhr nachts bog Fred in die kleine Gasse ein, in der Charlies Wohnung lag. Sie stiegen aus und er trug ihr kommentarlos den Koffer die kleine Treppe hoch, die zu ihrem Eingang im ersten Stock führte. »Nett hast du es hier«, kommentierte er die bunt zusammengewürfelte Einrichtung. Viele der Möbel hatte sie von ihren Vormietern übernommen, einem Paar aus den USA, das zurück in die Staaten gegangen war. »Geht ganz gut ohne Innenarchitektin, oder?« Sie grinste. Dann wurde sie ernst. »Ich werde euch vermissen.«

»Wir dich auch. Pass gut auf dich auf und wenn du irgendetwas brauchen solltest …«

»Danke, das weiß ich zu schätzen.« Nachdem er sich mit einer aufmunternden Umarmung verabschiedet hatte, fühlte sie sich wie der einsamste Mensch auf dem Planeten. Wie viele Leute wohl den Heiligabend allein verbrachten?

Auf einmal wurde ihr klar, dass sie jetzt vollkommen auf sich gestellt war. Eine leichte Panik stieg in ihr auf und schnürte ihr den Hals zu. Von diesem Moment an würde ihr Leben ohne Netz und doppelten Boden ablaufen. Mit wacheren Augen musterte sie die Wohnung, die nun ihre einzige Welt war. Als sie eingezogen war, hatte sie das zusammengewürfelte Mobiliar wie ein aufregendes Accessoire ihres neuen Künstlerlebens betrachtet. Doch nun erschien es ihr ärmlich und ungenügend. Das Geschirr passte nicht zusammen und türmte sich in der Spüle, wenn sie es nicht sofort wegräumte. Die fensterlose Küche besaß lediglich zwei Kochplatten ohne Backofen. Das Sofa im kleinen Wohnzimmer war durchgesessen und nur mit Überwurf zu gebrauchen. Weil es kein Regal gab, waren die Bücher stattdessen in einer Ecke zu einem Turm gestapelt. In der engen Dusche spürte sie unweigerlich den geblümten Plastikvorhang an ihrem nassen Körper kleben.

Unruhig strich sie durch die Räume und sah durch das Wohnzimmerfenster auf die dunkle Straße. In den meisten Häusern brannte kein Licht mehr. Nur schräg gegenüber flackerte ein Fernseher. Waren all ihre Nachbarn über Weihnachten verreist? Sie fühlte sich einsamer als je zuvor in ihrem Leben und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Eine böse Stimme in ihrem Inneren flüsterte, dass es ihr recht geschehe und sie sich ihr Elend selbst zuzuschreiben habe. Die jahrelangen Einflüsterungen ihrer Mutter versuchten, Macht über sie zu bekommen. Diese gemeinen Worte, die stets nur dem einen Zweck dienten, aus ihr die folgsame Sklavin von Irina Sanders zu machen.

Doch sie war kein Kind mehr, das zur Strafe auf sein Zimmer geschickt wurde. Sie war eine erwachsene Frau mit einem eigenen Leben und einem eigenen Job. Entschlossen ballte sie die Fäuste, presste die Lippen fest aufeinander und ermahnte sich mantraartig zur Stärke. Mit eisernem Willen bekämpfte sie die aufkeimenden Gedanken, die nach Hoffnungslosigkeit und Angst schmeckten.

Nein, jedes Ende war ein neuer Anfang. Dies war der Moment, die Veränderungen in ihrem Leben anzunehmen wie eine Weide, die sich im Sturm bog, und nicht daran zu zerbrechen. Leise, ganze leise begann ein bislang ungekanntes Gefühl in ihrer Seele zu keimen. Ein Gefühl von unendlichen Möglichkeiten. Sie war nur noch für sich selbst verantwortlich und völlig frei zu tun und zu lassen, was sie wollte. Mit einem kämpferischen Lächeln auf den Lippen fiel sie schließlich in einen unruhigen Schlaf.

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