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Geschwisterstreit

Ein Ausschnitt aus meinem aktuellen Schreibprojekt:

Eine Woge des schlechten Gewissens stieg in ihr auf. Wieder machte sie alles falsch. Aber Laura hatte das Gefühl, durchzudrehen, wenn sie hierbliebe. Allein die Tatsache, dass sie in ihrem Elternhaus am Küchentisch saß, verursachte Beklemmungen bei ihr. Nur mit Mühe hatte sie die Beerdigung ausgehalten, ohne zusammenzubrechen. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sich nun alles geändert hatte. Dass sie nun bis auf ihre große Schwester vollkommen allein auf der Welt war. 

„Wo soll es denn hingehen?“, fragte Susanne mit gefährlicher Ruhe. 

„Ich dachte an die USA, vielleicht New York.“ Laura beobachtete, wie ihr Gesicht einen harten Ausdruck bekam. 

„Das kann einfach nicht dein Ernst sein“, meinte Susanne bitter.

„Was kann nicht ihr Ernst sein?“, erkundigte sich Ralf eine Spur zu heiter. In seinem dunklen Anzug kam er ihr irgendwie kostümiert vor.

„Laura plant, erstmal kein Referendariat zu machen. Stattdessen will sie eine nette Reise in die USA antreten.“ 

USA sprach sie mit leichtem Spucken aus, so als wäre das der Gipfel der Dekadenz. Natürlich. Susanne war in ihrem spießigen Dasein noch nicht weiter als bis auf einen Campingplatz in Holland gekommen. Aber vielleicht gab es Menschen, die sich vom Leben etwas Anderes wünschten? Wer war sie überhaupt, über Laura zu urteilen? 

Ralf blickte zwischen den Schwestern hin und her. Laura sah, wie er überlegte, was er sagen konnte. Dann schlug er sich selbstredend auf die Seite seiner Frau.

„Wovon willst du das denn finanzieren?“, fragte er mit gerunzelter Stirn. 

Plötzlich wurde Laura wütend. Die beiden hier hatten sich. Ihr Kind, ihre perfekte kleine Kernfamilie. Für Laura war da kein Platz. Auf einmal fühlte sie sich wie der einsamste Mensch auf dem Planeten. 

„Natürlich von meinem Teil des Erbes“, entgegnete Laura und wusste genau, dass sie sich auf diese Weise Feinde machen würde. Sie hörte die unausgesprochenen Gedanken von Ralf und Susanne so laut, als würden sie sie ihr mit einem Megaphon entgegenschreien. 

„Nach allem, was wir durchgemacht haben, wird Laura uns zwingen, sie direkt auszuzahlen, damit sie eine Vergnügungsreise machen kann.“

Es war längst ausgemacht, dass Susanne mit ihrer Familie in ihr ehemaliges Elternhaus zog. Sie würden wegen Laura einen Kredit aufnehmen müssen. Bestimmt hatten sie erwartet, dass Laura durch das Referendariat nicht sofort auf das Geld angewiesen sein würde und sie Zeit hätten, bis sie die Summe aufbringen mussten.

Susanne drehte sich zu Laura um. Ihr Gesicht war gerötet und in ihren Augen brannten wütende Tränen. „Dann hoffe ich, dass du mit dieser Entscheidung glücklich wirst und dass du nie mehr in die Situation kommst, unsere Hilfe zu brauchen. Dieses Haus steht dir dann nämlich nicht mehr offen.“

Das waren, abgesehen von nichtssagenden Weihnachtskarten, die letzten Worte, die sie miteinander gesprochen hatten. Bis zu jenem Tag in Brooklyn, als plötzlich ihre Schwester am Telefon gewesen war und gesagt hatte: „Komm nach Hause, Laura. Bitte.“