Weihnachtsmagie am Jungfernstieg
Im Zickzack kämpfte Anneke sich über den völlig überfüllten Bürgersteig. Weihnachtseinkäufer mit riesigen Taschen drängten sich vorbei, dazwischen saßen Bettler wie kleine Hindernisse auf dem nassen Boden, trotz des eisigen Winds und des Nieselregens. Eine Frau mit Kopftuch kniete selbstvergessen mitten im Strom der Passanten. Es grenzte an ein Wunder, dass niemand über sie stolperte. Links von ihr spielten drei Schülerinnen Weihnachtslieder auf Blockflöten und sammelten für irgendeinen Hilfsfonds.
Annekes Atem ging stoßweise. Inzwischen zweifelte sie, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, sich hierher aufzumachen. Ihre alten Knochen beschwerten sich über die ungewohnte Bewegung. Vor allem aber hatte sie sich die Gesellschaft anderer Menschen gründlich abgewöhnt und nun waren es viele. Viel zu viele für eine Frau, die kaum noch die Wohnung verließ, seit sie vor zwei Jahren in Rente gegangen war.
Zwischen Alsterhaus und Computerladen blieb sie stehen. Hier musste es sein. Endlich. Doch etwas stimmte nicht. Statt eines Cafés fand sich an der angegebenen Adresse ein Mobilfunkladen. Sie zog die Karte hervor, die vor drei Tagen in ihrem Briefkasten gelegen hatte, und verglich die Anschrift. Alles korrekt. Sogar eine kleine Zeichnung war dabei, die das Café genau hier verortete.
Zögernd betrat sie den Laden. Inzwischen war sie fast sicher, dass sich jemand einen Scherz mit ihr erlaubt hatte.
„Kann ich ihnen helfen?“ Eine rotgekleidete Verkäuferin mit einem Rentiergeweih auf dem Kopf trat auf sie zu.
Anneke reichte ihr die Karte. „Ich suche diese Adresse.“
Die Frau rollte mit den Augen. „Da sind Sie nicht die Einzige. Da geht’s rauf.“ Das Rentiergeweih deutete nach links auf eine Treppe, die ins Obergeschoss führte.
Immer noch zweifelnd stieg Anneke hinauf. Treppen gehörten inzwischen zu den Dingen, die ihr Mühe machten. Außerdem brauchte sie weder ein Telefon noch einen neuen, teuren Mobilfunkvertrag. Ihre schmale Rente reichte ohnehin kaum aus. Wenn sie nicht diesen ominösen Gewinn gemacht hätte, würde sie jetzt mit einer Tasse Tee vor dem Fernseher sitzen, eine Wärmflasche an den Füßen, weil sie die Wohnung nur noch auf 19 Grad heizte – mehr war einfach nicht drin.
Oben sah es linker Hand weiterhin nach Büroalltag aus. Doch rechts öffnete sich plötzlich ein Raum: ein Tresen mit italienischer Kaffeemaschine, eine Auslage verführerisch aussehender Gebäckstücke. Die Tische standen entlang der Fensterfront und boten ein spektakuläres Panorama auf die hell erleuchtete Tanne in der Mitte der Binnenalster. Anneke lächelte. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee gewesen, herzukommen.
Eine Kellnerin kam auf sie zu. Eine üppige Frau mit wachen Augen, einem Dutt, aus dem sich Strähnen gelöst hatten, und einem leicht gehetzten Gesichtsausdruck. „Es tut mir leid, momentan sind alle Tische belegt.“
Anneke holte die Karte hervor. „Bin ich hier vielleicht richtig?“ Sie zeigte ihr den Gutschein. „Adventskaffee mit Panoramablick für eine Person“ stand darauf – ein Gewinn aus einer Lotterie, an die sie sich nicht erinnern konnte.
Das Gesicht der Kellnerin veränderte sich. Ein warmes Leuchten trat in ihre dunkelblauen Augen. „Das ist natürlich etwas anderes. Herzlich willkommen, Frau …?“ Sie hob fragend die Brauen.
„Dittrich. Anneke Dittrich.“
Die Kellnerin nickte, als hätte sie den Namen auf einer Liste gelesen. „Wenn Sie mir bitte folgen möchten, Frau Dittrich. Die anderen sind schon da.“
Es war lange her, dass man sie behandelt hatte, als sei sie etwas Besonderes. Anneke lächelte.
Zwei ältere Damen saßen bereits an einem runden Tisch in der Ecke. Viel zu sagen schienen sie sich nicht zu haben. Die eine, mit rundlichem Gesicht und zurückgebundenen grauen Haaren, rührte gedankenverloren in ihrem Kaffee. Die andere, elegant gekleidet, sorgfältig geschminkt, mit einer Lesebrille auf der spitzen Nase, las auf ihrem Smartphone.
Zwei Stühle waren noch frei. Offenbar gab es einen weiteren Gewinner. Anneke wählte den Platz mit seitlichem Ausblick auf das Fenster und nickte den beiden höflich zu.
„Was darf ich Ihnen bringen?“, fragte die Kellnerin. „Heute geht alles aufs Haus – Kaffee, Tee, vielleicht ein Aperitif?“
So langsam begann der Nachmittag, ihr zu gefallen. „Gern eine heiße Schokolade“, sagte sie. „Mit viel Sahne.“ Das hatte sie sich zuletzt gegönnt, als sie mit sich selbst den Beginn ihres Ruhestands gefeiert hatte.
„Eine gute Wahl.“ Die Kellnerin bedachte Anneke mit einem durchdringenden Blick, als wolle sie sich ihr Gesicht für die Ewigkeit einprägen. „Und Sie können sich ja schon einmal miteinander bekannt machen.“
Einen Moment lang herrschte eine unbequeme Stille, in der offenbar niemand so recht wusste, wie man das Gespräch beginnen sollte.
„Haben Sie auch bei der Lotterie gewonnen?“, fragte Anneke schließlich, einfach um etwas zu sagen. „Ich muss gestehen, ich konnte es kaum glauben. Ich habe wohl noch nie in meinem Leben etwas gewonnen.“
Die rundliche Frau nickte freundlich. „Ja, ich auch. Sonst wäre ich hier gar nicht – das ist eigentlich nicht meine Preisklasse.“ Ihre Stimme klang leise, fast zart, als würde sie nicht häufig genutzt.
„In letzter Zeit wird sowieso alles immer teurer“, sagte Anneke. „Ich gehe kaum noch aus dem Haus, weil ich jedes Mal fürchte, dass mir das Geld durch die Finger rinnt.“
Die elegant gekleidete Frau, die bislang kaum mehr als einen knappen Gruß zustande gebracht hatte, nahm nun ihre Lesebrille ab und legte den Kopf leicht schräg. „Ich hingegen mache nie bei Preisausschreiben mit. Wirklich nie. Und trotzdem bekam ich diese merkwürdige Einladungskarte. Seltsam, oder?“ Sie biss sich auf die Unterlippe.
Anneke stutzte. Etwas an dieser Geste kam ihr vertraut vor – wie ein flüchtiges Déjà-vu. Für einen Moment war ihr, als müsste sie diese Frau kennen. Doch seit ihrer Rückkehr aus Namibia vor zwanzig Jahren hatte sie kaum neue Bekanntschaften geschlossen, geschweige denn alte wieder aufleben lassen, sondern ziemlich zurückgezogen gelebt.
„Merkwürdig, in der Tat.“ Die andere Frau – die mit dem runden Gesicht – lächelte, und ihre Augen funkelten. „Vielleicht gibt es hier einen geheimen Wohltäter, der alleinstehenden Frauen ein wenig Weihnachtsfreude schenken will?“
„Wer sollte denn so etwas tun? Einfach nur aus Nettigkeit?“ Die Dritte schüttelte verächtlich den Kopf, als sei das eine absurde Vorstellung.
Und wieder war da dieses Gefühl, als hätte Anneke all das schon einmal erlebt.
Da ertönte draußen plötzlich laute Weihnachtsmusik. Pauken und Trompeten schmetterten „Jingle Bells“.
„Die Weihnachtsparade!“, rief ein Teenager vom Nebentisch und sprang auf. Auch Anneke und ihre Tischnachbarinnen traten ans Fenster, um besser sehen zu können.
Unten war die Menge so dicht gedrängt, dass die Nachzügler, die eben aus den Geschäften strömten, wohl nur noch die silbrig-glänzenden Spitzen der Stelzenläufer über den Köpfen der anderen erkennen konnten. Vom Rest der Engel, Wichtel und Weihnachtsmänner sahen sie vermutlich kaum etwas. Von hier oben jedoch bot sich ein perfekter Blick auf das Spektakel.
Plötzlich dachte Anneke daran, wie anders Weihnachten einst gewesen war. Damals, als Kind, bevor das Schicksal ihre Familie in alle Winde zerstreut hatte. Wie hatte sie sich auf den Heiligen Abend gefreut. Wochenlang hatten sie und ihre Schwestern über nichts anderes gesprochen.
Ihre Schwestern.
Ob sie noch lebten?
Auch sie wären jetzt alt. Hatten sie Familien? Oder waren sie ebenso allein wie sie selbst?
Ein altvertrautes Loch tat sich in ihrem Inneren auf – schwarz und groß wie damals, als sie nach Afrika gegangen war, weil sie in Deutschland nichts mehr hielt. Als hätte sie nicht fast vier Jahrzehnte gehabt, es zu füllen. Doch Einsamkeit fühlte sich nie schmerzhafter an als zur Weihnachtszeit, wenn die Welt innehielt und sich alles um Familie drehte.
Ein Wagen fuhr vor, voller Kinder in silbernen Engelskostümen, angeführt von einem dickbäuchigen Weihnachtsmann, der „We Wish You a Merry Christmas“ anstimmte.
„Ach, wie entzückend.“ Die Frau neben ihr lächelte, und die Falten um ihre Augen vertieften sich auf eine Art, die sie wie eine liebevolle Großmutter wirken ließ. „So etwas haben wir früher auch gemacht.“
Anneke biss sich auf die Zunge, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. „Wir auch. Wir sind als Engel aufgetreten und haben ‚Oh du fröhliche‘ gesungen.“
Da weiteten sich die Augen der Frau überrascht. „Wir auch. Was für ein Zufall.“
„Ist das nicht ein bisschen viel Zufall?“, sagte plötzlich die Dritte. Sie war bleich geworden, als hätte sie ein Gespenst gesehen. „Vielleicht sollten wir uns einander richtig vorstellen. Ich bin Hanne. Eigentlich Johanne. Dittrich.“
Anneke starrte sie an – ungläubig. Doch ihr Herz hatte es längst geahnt.
„Hanne!“ Sie stürzte sich in ihre Arme. „Meine Hanne!“ So hatte sie sie als Kind immer genannt, als sie ihrer ältesten Schwester überallhin gefolgt war. Tränen liefen über ihr Gesicht, benetzten den Kragen ihrer besten Bluse. Und als sie in die dunklen Augen sah, wusste sie: Es waren nicht nur ihre eigenen Tränen.
„Meine Anneke!“, sagte Hanne. Dann löste sie einen Arm von Anneke und streckte ihn der anderen Frau entgegen. „Und Gesche, nicht wahr?“
Zu dritt lagen sie sich in den Armen und pressten sich aneinander, als wollten sie sich nie wieder loslassen.
„Wie konnte ich bloß nicht merken, dass ihr es wart?“ Anneke lachte beinahe hysterisch.
„Wie konnten wir nur zulassen, dass wir vier uns so viele Jahre nicht gesehen haben?“ fragte Gesche irgendwann leise.
Da war er wieder: der Moment, als der Streit um eine Kette von nur ideellem Wert zu unverzeihlichen Worten geführt hatte – Worten, die sich wie Gräben zwischen den Schwestern aufgetürmt hatten und die dazu geführt hatten, dass sich ihre Wege für Jahrzehnte getrennt hatten.
Plötzlich lösten sie sich voneinander und richteten den Blick auf den vierten, noch leeren Stuhl. Vier.
„Inge?“ Hannes Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Ob sie auch noch kommt?“ Hoffnungsvoll glänzten Gesches Augen.
Dieser Ausdruck war Anneke so vertraut, dass sie sich erneut fragte, wie sie ihre Schwester nicht sofort hatte erkennen können. „Es würde zu ihr passen, wenn sie hinter all dem steckt“, sagte sie. Ja, das Nesthäkchen war schon immer für Überraschungen gut gewesen.
Gesche grinste schelmisch. „Sie war immer die Harmoniebedürftigste von uns.“
„Und die Jüngste“, ergänzte Hanne.
„Vermutlich kommt sie gleich im Engelskostüm um die Ecke“, meinte Anneke.
Alle drei lachten.
Doch statt Inge kam die Kellnerin mit einer Etagere köstlicher Kuchenstücke, wie sie sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen hatten – Gewürzschnitte, Donauwelle, Bienenstich, Apfel-Zimt. In der Bäckerei ihrer Eltern hätten sie nicht besser ausgesehen. Normalerweise hätte Anneke der Anblick das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen.
„Unsere heutige Auswahl“, sagte die Kellnerin mit einem Lächeln. „Ich hoffe, es ist etwas für Sie dabei.“ Dann hielt sie inne, als die drei nur stumm dasaßen. Sie stellte die Etagere ab. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
„Wie man’s nimmt“, antwortete Hanne ruhig: Wie selbstverständlich übernahm sie das Wort, wie früher, als Älteste. „Wir fragen uns, wie wir wirklich zu dieser Einladung gekommen sind.“
„Wir wissen inzwischen, dass es kein Preisausschreiben war“, fügte Gesche hinzu.
Die Kellnerin blickte von einer zur anderen. „Verstehe. Sie haben sicher einige Fragen.“ Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.
Anneke tauschte einen Blick mit ihren Schwestern. Hanne hatte die Augenbrauen zusammengezogen. Gesche schaute wie ein verschrecktes Reh. Annekes Magen krampfte sich zusammen. Etwas stimmte nicht.
Schweiß trat auf die Stirn der Kellnerin. „Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Mein Name ist Helena Stevens.“ Sie griff in ihre Schürze und holte eine alte Fotografie hervor. Einen Moment lang betrachtete sie sie still, dann legte sie sie auf den Tisch.
Anneke schnappte nach Luft. Sie kannte dieses Bild. Es hatte jahrelang auf der Anrichte im Wohnzimmer ihrer Eltern gestanden. Und doch hatte sie es seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen: vier Kinder in Engelskleidern, beim Krippenspiel in der Kirche. Eine Nachbarin hatte das Foto aufgenommen und ihnen später geschenkt.
„Hanne, Anneke, Gesche und Inge. Weihnachten 1958“, las Hanne andächtig vor, was in der klaren, eleganten Schrift ihrer Mutter darunter geschrieben stand. „Woher haben Sie das Foto?“, sprach Gesche aus, was alle dachten.
Helena strich mit zitternder Hand über das Bild. Anneke ahnte – nein, sie fürchtete – was jetzt kommen würde.
„Ich habe es kürzlich zum ersten Mal gesehen. Im Nachttisch meiner Mutter. Sie war lange krank, lag im Krankenhaus. Als wir dachten …“ Ihre Stimme versagte. „Als wir dachten, sie würde nicht mehr zurückkommen, bat sie mich, ihr dieses Foto zu bringen.“ Ein Schatten fiel über Helenas Gesicht. „Ich fragte sie, wer mit ihr auf dem Bild war.“
„Mit ihr?“ Anneke flüsterte. Ein Stein, schwer wie ein Stück des Siebengebirges legte sich auf ihre Brust. „Du bist … Inges Tochter?“ Die Worte kamen ihr kaum über die Lippen. Doch das, was sie wirklich wissen wollte, sprach sie nicht aus: Was ist mit ihr?
Helena nickte. „Sie sagte, das Einzige, was sie in diesem Leben bereute, sei, dass sie ihre Schwestern nicht wiedergesehen hat. Und vielleicht nie mehr wiedersehen wird. Dann bat sie mich, euch zu suchen.“
„Ein einfacher Anruf hätte es möglicherweise auch getan, warum so kompliziert?“, murmelte Anneke.
„Das mit dem Gewinnspiel war ihre Idee“, sagte Helena. „Sie meinte, das wäre die einzige Möglichkeit, ihre sturköpfigen Schwestern zusammenzubringen. Sie hatte Angst, dass sonst jede von euch eine Ausrede finden würde.“
Anneke tauschte einen Blick mit Hanne und Gesche. Ja – vermutlich hätte sie selbst eine gefunden. Aus Angst, dass ein Wiedersehen zu schmerzhaft sein könnte. Aber jetzt – jetzt hätte sie diesen Schmerz für nichts auf der Welt gegen das Glück eingetauscht, wenigstens zwei ihrer Schwestern wiedergefunden zu haben. Freude und Schmerz, so nah beieinander.
„Und Inge? Wie ist sie …?“, fragte Hanne vorsichtig – die Frage, die Anneke nicht hatte stellen wollen.
Helena sah sie erschrocken an. „Was? Oh nein – das ist ein Missverständnis. Meine Mutter lebt. Sie ist sehr schwach, zu schwach, um selbst zu kommen. Aber sie lebt. Und sie wollte wissen, ob ihr vielleicht Weihnachten mit uns verbringen möchtet.“
Anneke und ihre Schwestern sahen einander an. Es war nur ein Blick – aber er sagte alles. Es ist Zeit, die Vergangenheit loszulassen. Zeit, das zu feiern, was sie hatten, statt dem nachzutrauern, was verloren war. Zeit, ausgiebig miteinander zu reden.
Und zum ersten Mal seit Jahren freute Anneke sich wieder auf die Zukunft und natürlich auf Weihnachten.
Dies ist mein Beitrag zum diesjährigen Autorenadventskalender, an dem ich nun schon seit Jahren gern teilnehme!
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